Der unterschätzte Höhlenmensch

Steinzeitmenschen waren keine primitiven Barbaren. Die Zivilisation der Vorgeschichte sei in ihrer Wichtigkeit noch nicht entdeckt worden, meint der Anthropologe Richard Rudgley in seinem neuen Buch "Abenteuer Steinzeit".

Vom Mythos des tumben Steinzeitmenschen

Die Hominiden der Steinzeit waren dumpfe Wesen, sie hatten keine religiösen Empfindungen, keine künstlerische Begabung und es fehlte ihnen an symbolischem Denken. Der Fortschritt kam dann plötzlich, durch einen "kulturellen Bigbang" im Jungpaläolithikum, also vor 40.000 Jahren: Kunst, Magie, Religion, Schrift, Technologie und soziale Organisation entstanden durch eine unerklärliche, plötzliche "menschliche" Revolution. Soweit die gängige Meinung.

Der Anthropologe Richard Rudgley meint hingegen: "Das Problem bei der Standardauffassung von Steinzeit ist, dass sie nicht hinreichend erklärt, wie die historischen Zivilisationen aus diesem "primitiven" prähistorischen Erbe entstehen konnten". Sein Ansatz: die Steinzeitmenschen legten die Basis für diese Errungenschaften. Er führt zahlreiche Beispiele an, welche Wurzeln der Zivilisation in der Steinzeit zu suchen sind.

Steinzeit per definitionem

Die Steinzeit wird so genannt, weil das wichtigste Material zur Herstellung von Werkzeugen der Stein war. Archäologen unterteilen die Steinzeit in drei Hauptperioden: Paläolithikum (Altsteinzeit), Mesolithikum (Mittelsteinzeit) und Neolithikum (Jungsteinzeit). Die Periode des Paläolithikums ist bei weitem die längste der drei; sie beginnt mit den ältesten bekannten Steinwerkzeugen aus Afrika (2,4 Millionen Jahre alt) und endet etwa vor zehntausend Jahren. Das Paläolithikum wird in drei Abschnitte unterteilt: Altpaläolithikum (vor etwa 200.00 Jahren endend), Mittelpaläolithikum (von 200.000 bis vor 40.000 Jahren) und Jungpaläolithikum.

Die paläolithische Urschrift

Die Schrift und andere künstliche Gedächtnissysteme haben ihre Wurzeln in der Altsteinzeit. Es besteht allgemein Übereinstimmung, dass die früheste bekannte Schrift aus dem Nahen Osten kommt, aus der Welt der Sumerer um 3.100 v.Chr.

"Die Komplexität der ältesten Schrift verweist die Idee, dass die Schrift beinahe über Nacht entstanden ist, ins Reich des Absurden", meint Rudgley. Tausende scheinbar unwichtige Tonobjekte, die sogenannten "Tokens", lösten das Rätsel der Schriftentstehung. Die Tokens bildeten die Grundlage eines Vorläufersystems der Schrift.

Die Schrift entstand über Jahrtausende

Die prähistorschen Kugeln, Scheiben, Rechtecke und Pyramiden aus Lehm waren Symbole zum Zählen von Schafen, Ziegen oder anderen Gütern. Sie wurden ursprünglich in Gefäße gesteckt, dann aber von Ritzzeichen auf Tafeln abgelöst - der ersten Schrift, die schließlich in der Keilschrift der Sumerer gipfelte.

"Die Tokens zeigen, dass die Schrift nicht über Nacht entstand, sondern das Ergebnis von Bemühungen über Tausende Jahre war." Die Schrift gilt als das wichtigste Merkmal der Zivilisation. Das Fehlen der Schrift machte es leicht, die Steinzeitmenschen als unzivilisierte Wesen anzusehen.

Interview mit Richard Rudgley zum Ursprung der Schrift

Die Steinzeit-Operation

Ein aufsehenerregendes Beispiel sind die Operationsmethoden der Steinzeit. Die verbreitetste größere Operation war die Trepanation, bei der Teile der Schädelkapsel herausgeschnitten wurden. Die Wissenschafter verweigerten den Steinzeitmenschen lange die Anerkennung für diese Methode. "Als die ersten prähistorischen trepanierten Schädel auftauchten glaubte man nicht, dass sie Beweise für Schädelchirurgie seien. Bei einigen trepanierten Schädeln vermutete man Verletzungen, die von Waffen oder durch Unfälle verursacht wurden."

Da gewöhnlich nur die Knochen von Steinzeitmenschen von Archäologen entdeckt werden können, entziehen sich andere Operationen an Weichteilen der Erforschung. Es ist wahrscheinlich, dass verschiedene Operationen zumindest seit der neolithischen Zeit durchgeführt wurden. Eine andere medizinische Praxis des Neolithikums ist die Zahnheilkunde. Steinzeitliche Zahnbohrer sind nachgewiesen. Es gibt Beweise, dass Pflanzen mit betäubender Eigenschaft in alten Zeiten verwendet wurden.

Vorläufer des Töpferns

Die Steinzeitmenschen nutzten das Feuer schon vor 25.000 Jahren. Sie härteten hölzerne Speerspitzen, oxidierten Farbstoffe wie Ocker und setzten in Steinbrüchen Feuer für Kochstellen. Die Steinzeitpyrotechnologie enthielt schon die Schlüsselelemente, die man nachfolgend für das Töpfern und Metallschmelzen benötigte.

Mörser und Stößel versus Speer und Keule

Große Betonung wurde auf die Rolle der Jagd in der Altsteinzeit gelegt. Das Sammeln von Nahrung hat viel weniger Aufmerksamkeit bekommen, als es verdient. Neuere Untersuchungen zeigen, dass gesammelte Nahrung bis zu 80 Prozent der Gesamtnahrung ausmachen kann. Das Interesse der Archäologen an Artefakten der Essenszubereitung war bisher sehr gering: steinzeitliche Mörser und Stößel sind eben weniger aufregend als Speer und Keule.

Der Ursprung der Küchenmaschine

"Es ist anzunehmen, dass viele Ober- und Untersteine und Stößel übersehen worden sind oder im besten Fall von den Archäologen nicht beschrieben wurden, weil sie mehr am Sammeln und Beschreiben von Werkzeugen interessiert sind, die mit der glänzenderen und männerorientierten Jagd zu tun haben." Dabei wurde der Grundstein für eine moderne Technologie gelegt, meint der Autor ironisch: "Die elektrischen Küchenmaschinen von heute sind das jüngste Ergebnis einer technologischen Tradition, die bis zu den Steinzeitmethoden des Zerschlagens, Zerstampfens und Mahlens von Nahrungsmitteln zurückreicht."

Schon in der Steinzeit gab es Bergbau. Feuerstein von hoher Qualität wurde aus dem prähistorischen Bergwerk geholt. Der systematische Untertagebau, den man in die neolithische Periode datierte, hat schon vor 35.000 Jahren in Ägypten existiert - und damit beinahe zum Beginn des Jungpaläolithikums.

Steinzeit-Orchester?

Die Kunstfertigkeit der Steinzeitmenschen wurde bisher viel zu wenig geschätzt. Die Kunst des Jungpaläolithikums lässt erkennen, dass Malereien als auch Figurinen in einer Vielzahl von Maßstäben auftreten. In einigen Malereien wird auch die Perspektive angewendet.

Das frühe Paläolithikum stand den späteren in seiner Kunstfertigkeit um nichts nach. Es ist möglich, dass die Steinzeitmenschen schon Musikinstrumente hatte. Einige der gefundenen durchlöcherten Knochen könnten als Pfeifen benutzt worden sein, um Tiere nachzuahmen und sie so zur Jagd anzulocken.

Die Menschheitsgeschichte umdenken

"Die meisten Darstellungen der Menschheitsgeschichte widmen der prähistorischen Phase wenig Aufmerksamkeit. Sie wird kaum mehr als ein Auftakt für die eigentliche Handlung und Aufregung angesehen, die die Geschichte und die großen bedeutenden Ereignisse der Zivilisationen bieten. Meiner Ansicht nach sind solche Bericht nichts anderes als grobe Verzerrungen", meint Rudgley.